Das schaurige Summen der Wüste
9. Dezember 2020
Geister? Dämonen? Wer singt dort in den Dünen der Sahara?
Stille. Diese unglaubliche Stille. Kaum ein Ort auf der Welt verzaubert die Menschen mit seiner einzigartigen Abwesenheit von Geräusch und Ton so sehr wie die Sahara. Einheimische nennen sie „das Meer ohne Wasser“, Entdecker einen „Ozean der Stille“. Mit ihren 9 Millionen Quadratkilometern aus Sand und Stein ist sie die größte Trockenwüste unseres Planeten und vergleichbar mit der Fläche der USA.
Konstante Erneuerung.
Wüsten haben Menschen schon immer fasziniert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ihre Unberechenbarkeit – die Hitze, die Stürme, die Lawinen – eine Besiedelung gänzlich unmöglich gemacht hat. Wer hier sein Lager aufschlägt, wird es nicht lange halten können. Wer ausgedehnte Expeditionen unternimmt, muss gut vorbereitet und vor allem flexibel sein. Man muss immer weiterziehen, um nicht vom Wind verweht zu werden. Durch ihre konstante Erneuerung präsentiert sich die Wüste ihren Besuchern stets unberührt und unerforscht – es ist so, als ob niemand zuvor hier gewesen ist. Es sind die Träume von Weite und Leere, die Menschen magisch anziehen. Es sind Phänomene wie die Fata Morgana, durch die wir das Gefühl haben, einer Wasserquelle nahe zu sein, mit denen die Wüste uns den Verstand verdreht. Es scheint, als sei die Wüste das letzte Stück der Erde, das wir noch nicht bezwingen konnten – und auch nie bezwingen werden.
Dämonen der Wüste. Das Phänomen der singenden Sand-Dünen.
Da ist nicht nur Stille. Bereits seit dem 13. Jahrhundert gibt es Aufzeichnungen, die belegen, dass es da ein besonderes Geräusch in der Wüste gibt. Ein Summen, ein Stöhnen. Manche erinnert es sogar an ein Flugzeug. Aber da ist nichts am Himmel. Und auch in den Dünen ist das Geräusch nicht auszumachen. Wer singt dort im Sand? Das Geräusch lässt sich auch nicht als auditive Fata Morgana abtun, dazu ist es viel zu laut. 100 Dezibel sind in der Neuzeit gemessen worden. Sind da Geister in der Wüste? Dämonen in den Dünen? Natürlich haben die Menschen sich das Phänomen so erklärt und in ihren Geschichten diese seltsamen Vorkommnisse mit viel Pathos und Drama erzählt. Die Legenden ähneln sich, sie erzählen nicht nur über die Sahara, sondern auch über die Wüste Gobi und Namib. Selbst in kleineren Gebieten tritt das Phänomen bis heute auf.
Des Rätsels Lösung: Lawinen lösen dieses auditive Mysterium aus. Die Erkenntnis ist noch gar nicht alt. Es ist erst ein paar Jahre her, dass das Labor für Physikalische Statistik in Paris ihre Forschungsergebnisse vorgestellt – und den Sound sogar „nachgebaut“ hat. Um das Geräusch zu verstehen, mussten sie erst einmal nachstellen, wie eine Wüsten-Lawine überhaupt aufgebaut ist. Aus bis zu 500 zehn-zentimeter-dicken Schichten besteht sie. Diese gleiten eine nach der anderen die Düne hinab, wobei sie Luftpolster entwickeln. Es ist das Gewicht der Lawine, die die angestaute Luft schließlich wieder nach außen drückt, wodurch Schwingungen entstehen. Stellen wir uns diese Schwingungen 500-fach vor, ist es kein Wunder, dass das Geräusch etwas Dämonisches an sich hat. Etwas Bedrohliches. Das ist ein schauerlicher Gesang, der da durch die Dünen geht.
Wenn Musik die Stille bricht.
Es sind Phänomene wie diese, die auch die Berber in ihrem Camp in der Wüste Erg Chegaga in Süd-Marokko in ihre Geschichten einbetten, wenn sie Besucher am Lagerfeuer zu einem Aschebrot einladen und Musik für sie spielen. Die traditionelle Musik der Berber ist ein ursprünglicher Teil der marokkanischen Kultur, sehr rhythmisch, Trommeln und Händeklatschen, Gesang. Mit dieser Ausdrucksform kommentieren sie das Tagesgeschehen, mit Humor und Anzüglichkeiten. Wenn der Klang ihrer Trommeln in die Nacht aufsteigt, haben sie kein Echo, prallen nirgendwo ab, haben keine Resonanz, ihr Klang ist essenziell, pur, im Einklang mit der stillen, weiten, unerforschten: Wüste.
Die Zukunft unseres Planeten versteckt sich im ewigen Sand.
Während die Wissenschaft längst weiß, dass die Wüste nicht nur still ist, so haben Forscher jüngst eine weitere zukunftsweisende Erkenntnis gewonnen. Dank der Hilfe künstlicher Intelligenz bei der Untersuchung des Ökosystems im Westen von Sahara und Sahel haben wir Gewissheit, dass es dort weitaus mehr Bäume gibt, als lange vermutet. Die Wüste ist demnach fruchtbarer, als wir Jahrhunderte lang geglaubt haben. Die Weite und die Leere, die Abwesenheit eines Systems an Pflanzen und Bodenkultur kann ein Missverständnis gewesen sein. In Zeiten, in denen wir dem Klimawandel ausgesetzt sind, wird die Wüste plötzlich zu einem wichtigen Bestandteil unserer Zukunft. Noch wissen wir viel zu wenig über diesen Teil unseres Planeten, dem wir mit Skepsis begegnen und in den wir uns noch nicht recht hineingetraut haben.
Es ist an der Zeit, dass wir zuhören, entdecken und von dem lernen, was die Wüste bisher auf den ersten Blick verborgen hat.
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