Der Klang der Stille
15. Oktober 2020
Wie können wir den Klang der Stille nicht nur beschreiben, sondern auch: genießen?
Wir sehnen uns nach ihr, und doch können wir sie manchmal nicht ertragen: die Stille. Die Wissenschaft hat eine sehr eindeutige Definition dessen, was Stille ist. Und jede/r einzelne von uns hat sie auch. Wie können wir den Klang der Stille nicht nur beschreiben, sondern auch: genießen?
Der Mensch ist Teil seiner Geräuschkulisse. Wer einmal in einem schall-isolierten Raum war, weiß, wie beklemmend die Abwesenheit räumlicher, akustischer Orientierung sein kann. Hier geht einem die Stille im wahrsten Sinne des Wortes durch Mark und Bein. Länger anhaltend kann sie sogar zu einer sogenannten „sensorischen Deprivation“ führen: aus Mangel an Außenreizen entwickeln wir Denkstörungen, sogar Halluzinationen. Für den Verkauf, das Marketing, ist Stille die Höchststrafe. Sie wirkt konsumhemmend. Kein Wunder also, dass in Shops die Stille oft mit Hintergrundmusik überdeckt wird, damit wir alle in Kauflaune kommen. Doch warum sehnen wir uns manchmal so sehr nach Stille? Und was bedeutet eigentlich Stille? Kann man sie messen?
Der feine Unterschied von Tönen und Geräuschen.
Wir lernen es im Musikunterricht. Töne sind gleichmäßige Schwingungen im hörbaren Bereich. Sie haben eine Logik, sie verführen uns, sie tun uns gut. Geräusche hingegen, jene ungleichmäßigen Schwingungen, bilden den Gegenpol: Sie sind einfach da, sie treten singulär auf, reihen sich nicht in eine „wohlklingende“ Komposition ein, sie können uns ganz schön stressen. Wenn wir das Haus verlassen, sind wir hauptsächlich von spontan auftretenden Geräuschen umgeben, jenseits jeder Reihenfolge oder Logik. Kein Wunder also, dass wir in einem Jahr der weltweiten Shutdowns und der Isolation hin- und hergerissen sind zwischen Tönen, die wir mögen (zum Beispiel Musik und Filme, in denen wir uns bewusst einer komponierten Klangfolge aussetzen), und eben jener Geräusche, denen sich unser Gehör nicht entziehen kann und denen wir hilflos ausgeliefert sind. Manche von uns genießen die reduzierte Lärmbelästigung, andere von uns haben es schwer, vermissen gar ihre tägliche Dosis Lärm und fühlen sich seltsam einsam.
Alles eine Frage der Dezibel – die Wissenschaft der Stille.
Vom Geräusch zum Lärm: Wo endet die Stille, und wo beginnt der Lärm? Schallpegel werden für gewöhnlich in Dezibel (dB) gemessen. Bei null Dezibel (0 dB) liegt die menschliche Hörschwelle, danach bedeutet jede Zunahme um 10 dB eine Verdopplung der Lautstärke. Wir gehen mal von leise zu laut. Der Schallmessraum des Ortfield-Labors in Minneapolis gilt gemeinhin als der leiseste Ort der Welt. Hier werden nicht, wie man annehmen könnte, 0 dB gemessen, sondern minus 9,4 Dezibel. Für das menschliche Gehör schon eine Überforderung, klar, das sorgt für Beklemmung – und ist sicherlich nicht die Stille, nach der wir uns sehnen. Schauen wir uns – zunächst – wohlklingende Geräusche in der Natur an: einen Regentropfen. Er schlägt wenig spektakulär mit 10 dB zubuche. Regen hingegen: 50 dB. Knapp darunter: Vogelgesang mit 40 dB.
Was viele nicht wissen und was die Wissenschaft lange untersucht hat: Unsere sogenannte Stressgrenze, also der Moment, an dem wir bereits unangenehm berührt sind von all den Geräuschen, liegt bei 60 dB. Ab hier sind wir vielleicht verängstigt, nicht wir selbst. Das Klingeln des Telefons (80 dB), einhergehend mit negativen Assoziationen, die unser Drang zur Allzeit-Erreichbarkeit mit sich bringt, ist uns eigentlich schon zu viel. Ein Schnarchen: 90 dB. Im Vergleich: viele öffentliche Veranstaltungen wie Messen müssen sich an eine 80 dB Schallgrenze halten, und wer sich diesen Regularien bewusst widersetzt, weil die Stimmung doch gerade so gut ist, erhöht den Stresspegel der Besucher und Aussteller. Wer zuhause vorm Fernseher ein Livekonzert schaut und das Erlebnis so realistisch wie möglich haben möchte, dreht den Ton schon einmal auf 110 dB hoch und fühlt sich live dabei – denselben Wert erzielt ein Presslufthammer. Ein Gewitterdonner liegt mit 120 dB schon weit über der Stressgrenze, ein aufsteigendes Spaceshuttle, so schön es auch anzusehen ist, bringt 180 dB mit sich. Klingt mathematisch alles nicht überbordend viel, aber anhand der Beispiele sehen wir: Das ist schon eine sehr dünne Grenze zwischen Wohltat und Stress.
Enjoy the Silence.
Kein Wunder also, dass Künstler wie Simon & Garfunkel mit The Sound of Silence oder Depeche Mode mit Enjoy The Silence Welthits landeten. Sie sprechen die Sehnsucht der Menschen an, es „ruhig angehen“ zu lassen, akustisch zu entschleunigen. Warum sind im Jahr 2020 die Songs von Ed Sheeran so populär? Sie bringen uns dazu, aktiv zuzuhören. Wir blenden mit ihnen für einen Moment die Umgebung aus, konzentrieren uns. Wir brauchen Töne statt Geräusche, Wohlklang anstelle von Lärm. Viele von uns haben zu Zeiten von Corona festgestellt, wie gut sie sich fühlen, weil alles mal ein bisschen „leiser“ ist, weil wir zuhause den Stresspegel des Büros herunterschrauben können. Das hektische Radio- und Fernsehprogramm bleibt ein wenig auf der Strecke. Wir hören bewusster hin und lassen den Lärm draußen – er kommt ja früher oder später sowieso wieder. Wer seine siebte Telefonkonferenz des Tages mit all ihren knarzenden und blechernen Geräuschen beendet hat, tritt einen Schritt zur Seite und genießt: die Stille. Genießen Sie sie – solange, bis sie sich wieder komisch anfühlt.
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