Der verlorene Sommer
15. Oktober 2020
Sommer 2020 - ging da was?
Wenn der Sommer 1969 der Summer of Love war, was war dann der Sommer 2020? Zumindest eins ist sicher: In vielen Ländern ist er vorbei und wir fragen uns, was wohl von ihm bleibt.
Viele haben ihn als Höchststrafe empfunden, einen Sommer ganz ohne Festivals, Open-Air-Konzerte – Musik. Es scheint, als habe der Sommer 2020 ganz anders geklungen als seine Vorgänger, nämlich gar nicht. Dennoch mag er am Ende in seiner Verspieltheit und unserem Mut zur Improvisation gar nicht so sang- und klanglos verschwinden. Dafür hat sich in Zeiten der Versammlungsbeschränkungen und dem schwer wieder auf die Beine kommenden öffentlichen Leben zu viel getan.
Dann eben wieder Autokino...
Wir kennen sie heute hauptsächlich nur noch aus Filmen, die in den 50er Jahren spielen: Der Junge mit der Schmalztolle legt den Arm um das Mädchen mit dem Zopf und dem rosa Highschool-Pulli und wartet darauf, sie endlich küssen zu dürfen. Noch im letzten Jahr waren sie fast ausgestorben, ein Relikt aus einer Zeit, in der man selbst beim Filmschauen sein Auto nicht verlassen wollte. In Zeiten, in denen man sich nicht so leicht zu Hunderten in einem Saal aufhalten darf, erlebt das Konzept Autokino plötzlich ein unerwartetes Comeback.
Statt wie einst einen blechernen Lautsprecher ins Fenster gehängt zu bekommen, ist der Genuss des Films heute etwas leichter: Der Film-Ton wird über die Radiofrequenz übertragen, sobald man sich dem Ort nähert, spielt schon die Musik, die der Veranstalter ausgewählt hat, um die Zeit bis zum Film zu überbrücken. Je nach persönlicher Hörgewohnheit des Fahrers kann der Sound des Films im Auto somit gut oder sehr gut sein.
Meist ist die Leinwand aufblasbar, der Vorführraum in einem Baucontainer untergebracht und die Fläche günstig angemietet, da auf dem Parkplatz des Möbelhauses oder des Baumarkts sowieso derzeit nicht viel los ist. Ein Win-Win für Veranstalter und Geländebesitzer. So wird Kino eben doch noch möglich. Selbst Live-Konzerte und DJ-Sets haben so zumindest eine größere Menge an Menschen an einem Ort zusammenbringen können. Und das gemeinsame Hupen am Ende verbindet auch irgendwie.
Das alles mag einem am Ende des Tages doch noch schräg vorkommen, aber hey, wir waren mal wieder „unter Leuten“. Und wer weiß, vielleicht erlebt das Autokino ja auch über 2020 hinaus ein verdientes Revival.
... Oder alles einfach etwas kleiner.
Dort, wo es Lockerungen gibt, trifft man sich mit erforderlichem Abstand und in kleinsten Gruppen in Gärten oder Hinterhöfen. Wer sich an die Regeln hält und eine Gitarre oder andere akustische Instrumente hat, kann seine Songs zum Besten geben, auf Dächern oder einfach auf dem Fenstersims. Don‘t Stop The Music ist das Motto. Das Setting muss nicht unbedingt traurig und einsam sein - manchmal haben die Zuhörer sogar das Gefühl, einfach mal wieder intensiv zuhören zu können, anstelle wie so oft auf einem Festival die Augen schließen zu müssen, um das Akustik-Set auf der kleinen Bühne zu verstehen, während von beiden Seiten Billy Talent und Green Day von den Hauptbühnen rüber weht.
Die Rückkehr des illegalen Raves.
Ein Revival, bei dem sich die Geister scheiden, ist das des illegalen Raves. Hier fällt es schwer, sich eindeutig und aus vollem Herzen zu freuen - und das war auch zu seiner Hochzeit in den 90ern schon so.
Am Ende kommen Touristen: Speziell in England hat die geheime Electro-Party in brachliegenden Industrie-Komplexen, stillgelegten U-Bahnstationen und verlassenen Lagerhallen am Stadtrand eine lange Tradition. Legendäre illegale Party-Orte aus den 90ern in Städten wie Manchester und London haben die Immobilienpreise in die Höhe schnellen lassen, Tourguides führen Besucher dorthin, irgendwie will jeder damals beim „Peak“ der Raving Society dabei gewesen sein.
Zu Zeiten der Versammlungsverbote ist der illegale Rave, der nie so ganz weg war, plötzlich wieder in den Medien. Selbst in Wälder oder auf Felder laden die Veranstalter ihre Besucher ein – meist über eine E-Mail, über jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt in der Szene, absolutes Stillschweigen vorausgesetzt. Deshalb gibt es die Koordinaten der Party auch erst kurz vorher.
Nicht jeder dieser Raves verläuft reibungslos – schnell ist von eskalierten Events die Rede, auf denen es zu unkontrolliertem Drogenkonsum und auch Vergewaltigung gekommen sein soll. Die Presse in UK berichtet ausgiebig darüber. Auch wenn viele Veranstalter sich bemühen, die Natur und ihre Teilnehmer zu schützen und sorgfältig die Locations wieder aufräumen – die Gefahren einer Infektion und mangelnde Security sind immer da. Kein Sicherheitskonzept kann darüber hinwegtäuschen, dass allein die Existenz einer solchen Veranstaltung schon gegen das Gesetz verstößt.
Und jetzt?
Nicht nur Musikliebhaber fragen sich, wie es weitergeht. Die Veranstaltungsbranche steckt in ihrer bisher größten Krise. Viele zunächst lokale Aktivitäten wie #redalert oder #wemakeevents schließen sich nun auch global zusammen, um gemeinsam die Stimme zu erheben. Bisher war selten eine starke Lobby da. Die muss nun her, denn warten können die wenigsten darauf, dass es endlich „wieder losgeht“ – gerade jetzt, wo es in vielen Ländern der Erde auf den Winter zugeht und Außenveranstaltungen noch schwieriger werden.
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