Die Nacht, in der Aliens das Radio übernahmen
26. Oktober 2020
30. Oktober 1938
Das amerikanische Radio war als Massenmedium noch gar nicht alt, als ein 23-jähriger Regisseur mit ihm eine Massenpanik auslöste. Die großen Sender hießen damals schon NBC und CBS. Sie rangen um die Gunst der Zuhörer an den heimischen Geräten. Es galt als Gewinner, wer die höchsten Quoten und die bekanntesten Namen im Programm hatte.
An jenem Abend am 30. Oktober 1938 waren die Erwartungen bei CBS nicht hoch. Man hatte diesem ambitionierten jungen Regisseur einen Platz im Programm gegeben, damit er sich mit Hörspielen ausprobieren konnte. Die Quoten waren schwach, in der Regel holte er nur 2% der Hörer und noch nicht einmal einen Sponsor (damals üblich bei Sendungen) hatte man für ihn an Land ziehen können. Es war eine Frage der Zeit, wann man ihn wohl absetzen würde. Der Name des jungen Regisseurs: Orson Welles. Gemeinsam mit seinem Kollegen Howard Koch konzipierte er die Hörspiele, meist Adaptionen berühmter Romane, und sprach diese live ein. In jener Woche hatte er die Hoffnung, mit etwas Gruseligem die Hörer auf Halloween einzustimmen und vielleicht ein paar mehr Menschen im Land zu erreichen – mit einer Hörspielfassung von H.G. Wells‘ „Krieg der Welten“.
Die Kraft des Klangs.
Seit jeher gilt: Es kommt nicht darauf an, was, sondern wie du es erzählst. Jeder weiß, dass es sich bei der Marsmenschen-Invasion in „Krieg der Welten“ um reine Fiktion handelt. Das war auch schon beim Erscheinen der Buchvorlage im Jahr 1898 so. Um den Gruselfaktor beim Zuhörer zu verstärken, beschloss Orson Welles, die Science-Fiction-Geschichte realistischer zu erzählen. Er verlegte den Schauplatz von London nach New Jersey und machte aus der Geschichte einen Bericht, in dem er einen Reporter imitierte, der das reguläre Programm mit einer Eilmeldung durchbricht. Die Invasion wurde in „Echtzeit“ erzählt und immer weiter auf die Spitze getrieben, bis die Marsianer schließlich nicht nur Jersey, sondern ganz Amerika in Schutt und Asche legten.
Während der Sendung griff Orson Welles tief in die sonore Trickkiste. Geräusche, Musik, Sprache, Sirenen – sein Klangkonzept überließ nichts dem Zufall und hatte die Mission, den Zuhörer mit einem auditiven Erlebnis bis aufs Mark zu erschüttern.
Was Orson Welles bei all seinen gut platzierten Soundeffekten nicht ahnen konnte: Während seines Schauspiels gab es auf dem Konkurrenzsender eine kurze Sendepause, in der sich die Zuhörer langweilten und zu ihm umschalteten. Die Invasion traf sie also gänzlich unerwartet. Sie nahmen ernst, was sie dort hörten. Es gibt zahlreiche Berichte über Menschen, die panisch auf die Straße liefen, um zu schauen, ob die Marsianer bereits über den Dächern ihrer Stadt angekommen waren, Menschen, die sich in die Wälder flüchteten … Die Sendertelefone und die Leitungen der Notrufzentralen sollen damaligen Artikeln zufolge zeitweise zusammengebrochen sein.
Legende trifft Realität.
Orson Welles‘ Hörspielserie wurde schlagartig berühmt. Seine Quoten stiegen endlich – und keine geringere Marke als Campbell Soup sponsorte fortan seine Sendung. Zwei Jahre später legte er mit Citizen Kane einen Film vor, der als einer der unumstößlichen Klassiker der Filmgeschichte gilt. Auch sein Kollege Howard Koch profitierte von Krieg der Welten. Sein Drehbuch zu Casablanca ist für viele das beste Film-Skript aller Zeiten.
Wenn man allerdings weniger panisch und aufgekratzt die Berichte zu jener Nacht verfolgt, so stellt man fest, dass die angebliche Massenpanik vielleicht doch nicht so groß war, wie man uns hat glauben lassen. Tageszeitungen hatten seit jeher kritisch und ablehnend auf das neue Medium Radio reagiert, von dem man dachte, dass es dem geschriebenen Wort irgendwann den Rang ablaufen würde (ähnlich reagierte das Radio ein paar Jahre später auf das Fernsehen). Es kann also sein, dass die Presse in den kommenden Tagen etwas übertrieb, als sie Orson Welles als das Enfant Terrible des Radios bezeichnete – und das Radio als das Medium des Bösen. In einem waren sich aber alle einig. Sound kann Unerwartetes, Intensives und manchmal auch Verängstigendes in uns auslösen. Deshalb gilt heute mehr denn je die goldene Regel bei Funk, Fernsehen, Theater und Film: Vergiss niemals den Ton.
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